Artikel 21. Juli 2004 |
||||||||||||
Monsterwellen bestätigt
Seeungeheuer gibt es doch: ESA-Radarsatelliten entdecken Ursache für den Verlust vieler Schiffe
In den letzten zwanzig Jahren sind mehr als 200 Supertanker und Containerschiffe von über 200 Meter Länge auf hoher See untergegangen – meist unter schweren Wetterbedingungen. Inzwischen glaubt man, daß Riesenwellen, so genannte "Freak Waves“, für einen Großteil dieser Unglücksfälle verantwortlich sind. Die Schilderungen von Seeleuten, die eine solche Begegnung erlebt haben, hören sich schier unglaublich an. So traf beispielsweise das Kreuzfahrtschiff Queen Elizabeth II im Februar 1995 während eines Hurrikans im Nordatlantik auf ein 29 Meter hohes Wellenungetüm. Kapitän Ronald Warwick erinnert sich an "eine einzige riesige Wasserwand... es sah aus, als steuerten wir auf die weißen Klippen von Dover zu.“ Im Südatlantik traf es Ende Februar 2001 binnen einer Woche gleich zwei andere Kreuzfahrtschiffe, die Bremen und die Caledonian Star. In beiden Fällen durchschlugen Riesenwellen die Fenster der Kommandobrücke, die immerhin 30 Meter über der Wasseroberfläche liegt. Die Bremen trieb daraufhin zwei Stunden lang antriebslos und ohne Navigationssysteme auf hoher See. "Die beiden Vorfälle ereigneten sich weniger als 1000 Kilometer voneinander entfernt“, erklärt Dr. Wolfgang Rosenthal, Wissenschaftler am GKSS Forschungszentrum in Geesthacht, der das Phänomen Riesenwellen schon seit Jahren erforscht. "Bei der Bremen fiel die komplette Elektronik aus, während sie parallel zu den Wellen im Wasser trieb. Während des Ausfalls dachte die Mannschaft schon, daß vielleicht ihr letztes Stündlein geschlagen haben könnte.“
Auch Bohrinseln sind nicht vor den Monsterwellen sicher. Am 1. Januar 1995 wurde die Nordsee-Bohrinsel Draupner von einer "Freak Wave“ getroffen – ein Lasermeßgerät an Bord gab die Höhe mit 26 Metern an. Die Wellen in der Umgebung des Ungetüms waren mit bis zu 12 Metern nicht minder beeindruckend. Angesichts verläßlicher Radaraufzeichnungen von Plattformen wie der Draupner zeigen sich inzwischen auch ehemals skeptische Wissenschaftler überzeugt. Ihre bisherigen Statistiken gingen davon aus, dass derartige Abweichungen vom normalen Wellengang nur einmal alle 10.000 Jahre vorkommen können. Radardaten aus dem Nordsee-Ölfeld Goma belegen jedoch 466 solcher Vorkommnisse allein in 12 Jahren. Die Einsicht, daß Riesenwellen viel häufiger auftreten als bisher gedacht, hat drastische Auswirkungen auf die Sicherheitskonzepte für die Ozeanriesen und Bohrplattformen. Denn aktuell sind sie in der Regel nur für Wellen bis maximal 15 Meter Höhe ausgelegt – zu wenig, wie man inzwischen weiß.
"Ohne die Radaraufnahmen aus der Luft hätten wir überhaupt keine Chance gehabt, irgendwelche neuen Erkenntnisse zu gewinnen“, erklärt Rosenthal, der das auf drei Jahre angesetzte MaxWave-Projekt leitete. "Beim Projektstart konnten wir für unsere Arbeit lediglich auf Radardaten von Bohrinseln zurückgreifen. Also waren wir von Anfang an daran interessiert, die ERS-Satelliten für unsere Zwecke zu nutzen.“ Die ERS-Zwillingssatelliten der ESA, ERS-1 und ERS-2, drehen seit Juli 1991 bzw. April 1995 ihre Bahnen um die Erde - und werden bei ESA/ESOC in Darmstadt kontrolliert. An Bord führen sie jeweils ein so genanntes SAR (Synthetic Aperture Radar), mit dem sie ihre Daten sammeln. Das SAR wiederum arbeitet in verschiedenen Modi. Über dem Ozean kommt der Wellenmodus zum Einsatz, bei dem in Abständen von 200 Kilometern kleine "Ozeanausschnitte“ mit einer Größe von 10 zu 5 km aufgenommen werden.
"Die Rohbilddaten werden in der Regel nicht zur Verfügung gestellt, aber wir dachten uns, daß sie mit ihrer hohen Auflösung von zehn Metern auch im Urzustand schon eine Unmenge von Informationen enthalten sollten“, so Rosenthal weiter. "Die Wellenspektren liefern uns zwar Durchschnittsdaten zum Wellengang, aber aus den Rohdaten können wir zusätzlich die Höhe der einzelnen Wellen erkennen – darunter natürlich auch genau die Extreme, für die wir uns so interessieren.“ "Die ESA hat uns mit drei Wochen an Datenmaterial versorgt, insgesamt gut 30.000 einzelne Bildausschnitte, allesamt aus dem Zeitraum, als die Bremen und die Caledonian Star getroffen wurden. Im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt DLR haben wir die Bilder dann verarbeitet und automatisch nach extremen Wellenhöhen durchsuchen lassen.“ Trotz des relativ kurzen Erfassungszeitraums waren die Ergebnisse beeindruckend: Das MaxWave-Team konnte mehr als zehn Riesenwellen von über 25 Meter Höhe ausfindig machen, deren Auftreten über den gesamten Erdball verteilt war.
Die Rede ist von WaveAtlas, einem neuen Forschungsprojekt, in das ERS-Bildmaterial aus einem Zeitraum von zwei Jahren einfließen wird. Aus einer statistischen Analyse soll dabei ein Atlas entstehen, der das Auftreten von Riesenwellen auf der ganzen Welt aufzeichnet. Geleitet wird das Projekt von Susanne Lehner, beigeordnete Professorin für angewandte Meeresphysik an der Universität von Miami. Auch Rosenthal, mit dem Lehner schon am DLR im Rahmen von MaxWave zusammengearbeitet hat, wird bei dem neuen Projekt wieder mit von der Partie sein. "Wenn man sich durch das Bildmaterial arbeitet, fühlt sich das fast so an, als ob man über die Wasseroberfläche fliegt. Man kann den Seegang entlang der Bahn des Satelliten ganz genau verfolgen“, erklärt Lehner die Faszination ihrer Arbeit. "Außerdem sieht man auch sehr deutlich Dinge wie Eisschollen, Ölteppiche oder Schiffe – es gibt also großes Interesse, die Daten auch zu anderen Forschungszwecken zu verwenden.“ "Nur Radarsatelliten können uns das Datenmaterial liefern, das wir für eine solide statistische Analyse der Weltmeere brauchen. Anders als normale Photosatelliten funktionieren sie auch dann noch, wenn es dunkel oder bewölkt ist. Bei stürmischem Wetter sind sie zum Beispiel die einzige Möglichkeit, an brauchbare Daten zu kommen.“
Eine in dieser Hinsicht besonders ergiebige Gegend ist das Gebiet vor der Ostküste Südafrikas, wo der bekannt gefährliche Agulhasstrom sein Unwesen treibt. Doch auch andere große Strömungen sind potenzielle Riesenwellen-Verursacher – zum Beispiel der Golfstrom im Nordatlantik, der dort auf Wellen aus der Labradorsee trifft. Allerdings zeigen die Daten auch, daß Riesenwellen ebenso gut in der Nähe von Wetterfronten und Tiefdruckgebieten entstehen können, weit entfernt von irgendwelchen Strömen. Ursache sind hartnäckige Stürme, die länger als 12 Stunden andauern. Wenn anhaltender Wind in so einer Situation auf eine Welle trifft, die sich gerade synchron zur Windgeschwindigkeit bewegt, kann es dazu kommen, daß sich die Welle dadurch immer weiter aufschaukelt. Dabei kommt es gerade auf die richtige Geschwindigkeit an – wäre die Welle zu schnell, eilte sie vor dem Sturm her und verliefe sich irgendwann, wäre sie zu langsam, zöge der Sturm einfach über sie hinweg. "Einige der Ursachen von Riesenwellen kennen wir jetzt, aber einiges liegt auch noch im Dunkeln“, so Rosenthal abschließend. Etwas Zeit bleibt noch: Das WaveAtlas-Projekt soll bis zum ersten Quartal 2005 weitergehen. Quelle: ESA Pressebericht |